Predigt für den 13. Sonntag nach Trinitatis 2024 -Prädikant Frank Müller

Predigttext 3. Mose 19,1–34

Liebe Gemeinde,

Regeln und Vorschriften begleiten unser Leben von der Wiege bis zur Bahre. Was gibt es nicht alles für Regeln, Vorschriften, Gebote und Verbote: sinnvolle, unsinnige, bürokratische, gesellschaftliche, moralische, religiöse, fürs Benehmen, für das Miteinander, für den Straßenverkehr und noch viele, viele mehr. Deutschland gilt ja in der Welt als ein Land der meisten Regeln und Vorschriften.

Sie sind natürlich auch alle subjektiv bewertbar. Was für den einen sinnvolle Regeln sind, hält ein anderer wiederum für unsinnig. Das zeigt uns auch immer wieder die Politik und die Gesellschaft, wenn um die Bürokratie und deren Abbau diskutiert und gestritten wird. Die einen kämpfen um weitere Umweltgebote und -verbote, die anderen sehen sie als Einschränkung ihrer Möglichkeiten. Die einen wollen weitere Verschärfung der Arbeitnehmerrechte, die anderen wollen sie am liebsten wieder zurückdrehen oder gar gänzlich abschaffen. Die einen sehen die Asyl- und Schutzgesetze im Grundgesetz als wichtige und notwendige Regeln der Mitmenschlichkeit und des Schutzes bedrohten Lebens, anderen wäre es lieber, wenn dieser Passus aus dem Grundgesetz gestrichen werden könnte.
So ist es also mit den Regeln und Vorschriften.

In dem vorhin in der Lesung gehörten Bibelabschnitt aus dem 3. Buch Mose zum heutigen Predigttext wimmelt es auch von Regeln, Geboten und Vorschriften: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott. Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen. Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; Du sollst deinen Bruder nicht hassen. Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten. Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.“, um nur noch einmal einen kleinen Ausschnitt daraus zu nennen.

Wahrscheinlich sind dabei auch Erinnerungen an die Zehn Gebote in uns wachgeworden. In manchen Formulierungen klingt das eine oder andere Gebot sehr deutlich an. Aber dann geht der angefangene Satz anders weiter. Und wir hören neue Gebote und überraschende Bestimmungen und in diesen Bibelworten leuchtet das Leben in allen Farben und Facetten auf, mal allgemein und mal in feinen Einzelheiten. Da werden Tagelöhner und Fremdlinge genannt. Wir sprechen heute von Saisonarbeitern und Asylbewerbern. Gehörlose und blinde Menschen werden in Schutz genommen. Sie stehen für alle Menschen, die mit einer Behinderung leben müssen. Es wird uns eingeschärft, dass Gesetze für Große und für Geringe in gleicher Weise gelten. Und auch die Sache mit den Fake-News wird schon angesprochen, wenn es heißt: Du sollst nicht als Verleumder umhergehen. In diesem Bibelabschnitt wimmelt es von Geboten und Vorschriften, und wir wissen gar nicht, wo wir zuerst hinschauen sollen.

Wir können und wir müssen heute nicht über alle diese Gebote nachdenken. Die Fülle oder Überfülle an Geboten in diesem Bibelabschnitt hat jedoch einen Grund. Mit diesen Bestimmungen ist das Leben in aller Tiefe und Weite im Blick, mit seinen unendlichen Möglichkeiten und mit den Bedrohungen, die es in Gefahr bringen. Wenn wir tief in diese Gebote eintauchen, können wir erkennen, dass diese Bestimmungen Leben schützen und Leben fördern wollen. Das menschliche Leben wimmelt auf dieser Erde in einer Buntheit und Vielfalt von 8,2 Milliarden Menschen. Diese Schutzworte umschließen das Leben aller Menschen dieser Erde vom ersten bis zum letzten Atemzug.

Diese Worte haben eine universelle Weite, denn sie kommen aus einem Herzen voller Lebendigkeit und Liebe; sie kommen direkt aus dem Herzen Gottes. Er ruft uns zu: „Ich bin der HERR“. Die Gebote und Bestimmungen werden im Bibelabschnitt ständig unterbrochen von dieser Zusage: „Ich bin der HERR, euer Gott“.

„Ich bin der HERR, euer Gott“. Was bedeutet diese Zusage für uns? Das Wort, das Luther mit HERR übersetzt, ist in der hebräischen Ursprache der Bibel ein Wort mit vier Buchstaben. Bis heute wissen wir nicht, wie dieses Wort genau ausgesprochen wird. Wir wissen aber, dass dieses Wort Lebendigkeit und Dynamik und Zuwendung ausdrückt. Wir erinnern uns an Mose. Er steht am Rande der Wüste vor einem brennenden Dornbusch. Die Flammen lodern, aber der Busch verbrennt nicht. Aus dem Feuer heraus hört Mose die Stimme Gottes. Er bekommt den Auftrag, das versklavte Volk Israel aus der Unterdrückung in Ägypten in die Freiheit zu führen. Mose fragt nach: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt, und sie mir sagen wer denn, wie ist sein Name, was soll ich ihnen sagen? Gott, wie ist dein Name?

Auf diese Frage bekommt Mose nicht einen festen Namen genannt wie z. B. bei den Göttern der griechischen Mytologie Zeus oder Prometheus. Er bekommt auch keinen Begriff genannt, der etwas Unbewegliches bezeichnet wie Fels oder Burg. Mose bekommt auf seine Frage eine Antwort, die ein Geschehen bezeichnet. Es ist ein Geschehen, das sich immer wieder neu vollzieht. Die Formulierung ist so offen, dass es keine eindeutige Übersetzung dafür gibt. In der Lutherbibel heißt es: Gott sprach zu Mose: „Ich werde sein, der ich sein werde“.  In anderen Bibelübersetzungen heißt es: „Ich bin, der ich bin“ oder „Ich bin da“. Der Name Gottes sagt etwas Dynamisches aus. Wir können ihn vergleichen mit dem Feuer: Voller Kraft, voller Leben, voller Licht und Wärme und das in ständiger Veränderung.

Mit dieser Lebendigkeitskraft sagt Gott sich in unser Leben hinein, wenn er uns zuruft: „Ich bin der Herr, euer Gott“. Diese Lebendigkeitskraft hat Mose erfahren, als er das Volk Israel durch die Wüste ins Land der Freiheit führt. Diese Lebendigkeitskraft wird uns mit Jesus in unser Leben und in unsere Welt hineingegeben. Denn Jesus ist auch nicht einfach ein feststehender Name. Jesus ist die Übersetzung des hebräischen Namens Jeschua. Und Jeschua bezeichnet ein Geschehen, das sich immer wieder vollzieht. Jeschua heißt: „Gott hilft“ und genau so hat Jesus seinen Namen gelebt. Jesus hat seinen Namen in das Leben der Menschen hineinbuchstabiert: Blinde durften sehen. Taube durften hören. Kinder wurden gesegnet. Frauen wurden in den Freundeskreis um Jesus aufgenommen. Und Menschen am Rande der Gesellschaft wurden eingebunden in eine Gemeinschaft, die heilt und trägt.

Das ist das innere Feuer unseres Glaubens, nämlich dass Jesus die Lebenskraft seines Namens immer und immer wieder in unser Leben hineinbuchstabiert. Wir dürfen erleben: Gott hilft“. Dafür gibt es keine Einschränkung. Jesus erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Damit werden alle Zäune eingerissen, die das Helfen von Mensch zu Mensch in irgendeiner Weise eingrenzen wollten. Wenn wir für einen anderen Menschen erkennen, dass wir helfen sollen und helfen können, dann werden wir nicht fragen, wie alt er ist. Wir werden nicht auf seine Hautfarbe achten und wir werden nicht fragen, welche Sprache er spricht. Wir fragen nicht nach seiner Religion, nach seiner Herkunft, nach seinem Bildungsstand. Wir fragen nicht nach seiner sexuellen Orientierung oder seiner politischen Einstellung. Wenn wir einem anderen Menschen helfen sollen und helfen können, dann werden wir helfen. Denn wir glauben an Jesus. Und das heißt: „Gott hilft“.

Und nun schauen wir noch einmal auf die Gebote, die uns heute wieder ans Herz gelegt werden. In ihrer Mitte steht ein Satz, der sie universell gültig macht für alle Menschen. In der Geschichte vom barmherzigen Samariter nimmt Jesus diesen Satz auf. Und so hören wir es in der Mitte der Heiligen Schrift auf doppelte Weise: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat eine Bibelübersetzung vorgelegt, die im Deutschen das innere Wesen der hebräischen Sprache nachahmt. In dieser Übersetzung lautet dieses zentrale Gebot der Bibel so: „Liebe deinen Nächsten – er ist wie du“. Diese Aussage ist sehr direkt. In Sekundenschnelle lässt sie uns in der Tiefe unseres Herzens empfinden, was wir in einer bestimmten Situation tun oder nicht tun sollen. Denke an einen Menschen in der Nähe oder in der Ferne – er ist wie du. Er muss atmen und essen und trinken – so wie du. Wenn er verletzt wird, blutet er – so wie du. Sein Blut ist rot – so wie dein Blut. Er weint, wenn er Schmerzen hat – so wie du. Er sehnt sich nach Freude, nach Liebe, nach Glück – so wie du. Das gilt für die Menschen, die du magst und für die Menschen, die dir gleichgültig sind und für die Menschen, die dir das Leben schwer machen.

Der österreichische Schriftsteller Erich Fried war Jude. Allein des-wegen wurde er immer wieder angefeindet. Einmal wurde er gefragt, wie er einen Neonazi definieren würde. Da hat er geantwortet: „Ein Neonazi ist zunächst einmal ein Mensch, der unter Zahnschmerzen leiden kann wie ich selber; der Liebeskummer haben kann wie ich selber und weinen kann wie ich selber.“ Er hat dann natürlich auch noch anderes, schmerzvolles gesagt. Aber zunächst hat er festgestellt: Sogar ein Mensch, der mich anfeindet, ist in den grundlegenden Bedürfnissen genauso wie ich. Damit lässt Erich Fried eine Grundfarbe der biblischen Botschaft aufleuchten. Der Mensch neben dir – er ist wie du. Behandle ihn so, wie du selber behandelt werden möchtest.

Wir haben diese Botschaft heute neu gehört, hineinverwoben in die Glaubensgeschichte des Volkes Israel. Und Jesus legt uns diese Botschaft neu und für immer ans Herz. Damit bekommt unser Herz die Farbe der Liebe. Damit bekommen auch unsere Gedanken und Worte die Farbe der Liebe. Und damit bekommt auch unser Tun die Farbe der Liebe. Und damit können wir so sein, wie Gott uns haben möchte. Denn der Grund, warum wir uns heute diese Lebensworte aus dem Herzen Gottes angeschaut haben, steht ja gleich am Anfang dieses Bibelabschnitts: „Gott sagt: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott.“

Ja, liebe Gemeinde, wenn unser Herz die Farbe der Liebe annimmt, dann sind wir heilig und dann passen wir in guter Weise zu Gott. Wir passen in guter Weise zu dem Gott, der mit seinen Lebensworten das Leben schützt, das bunt und vielfältig auf dieser Erde wimmelt.

Amen